top of page
  • Roland Spitzegger

DISTANCE LEADERSHIP – FORCIEREN ODER DAVON ABSTAND NEHMEN?



Hatte die Covid-Pandemie auch positive Effekte? Diese auf den ersten Blick vielleicht zynisch anmutende Frage hat durchaus ihre Berechtigung wenn man bedenkt, dass sich in der Arbeitswelt viele Umwälzungen vollzogen haben. So wurde etwa Remote Arbeit plötzlich salonfähig, was für viele Beteiligte zweifellos als Segen empfinden.


Aber auch die rasante Evolution der Digitalisierung, die sich in nahezu exponentiellem Tempo vollzieht, hat eine Verschiebung der Arbeitsgewohnheiten in Richtung Fernarbeit oder Home-Office bewirkt. Das wiederum erfordert eine fundamentale Neubewertung der Führungskonzepte. "Distance Leadership" wurde zum Schlagwort, ein Konzept mit weitreichenden Implikationen auf die Arbeitswelt und damit auch auf das Recruiting.


Kontrollverlust vs. Motivationsschub

Im Grunde genommen bezeichnet der Begriff die Führung von Mitarbeitern, die nicht am selben physischen Ort wie ihre Führungskraft arbeiten. In der Vergangenheit konnte die Führung von Teams aufgrund geografischer Entfernungen tatsächlich problematisch sein. In der modernen Welt allerdings machen technologische Fortschritte wie Videokonferenzen, Cloud-basierte Projektmanagement-Tools, Instant Messaging, kurzum: eine effektive Kommunikation in Echtzeit das Ganze zu einer praktikablen und sehr verlockenden Option.


Vielen Führungskräften fällt es allerdings schwer, die Zügel locker zu lassen. Unsicherheiten und Versagensängste könnten da eine Rolle spielen, die Nähe zum Team und den Überblick über die Produktivität zu verlieren. Diese Blockade hat aber meist negative Folgen für die Teamarbeit, denn Sie beeinträchtigt eine motivierende Arbeitsatmosphäre und kann im schlimmsten Fall zu Abwanderungen führen. Idealerweise sollte die Entwicklung hin zum eigenverantwortlichen Arbeiten aus dem Homeoffice jedoch als Mehrwert gesehen werden. Freiräume motivieren Mitarbeiter intrinsisch. Sie schaffen Selbstwirksamkeit und steigern die Leistung. Ja, es gibt natürlich auch viele Mitarbeiter, die lieber in traditionellen Strukturen arbeiten. Verantwortungsbereiche können hier jedoch auch in Form von strukturierten Prozessen und klar kommunizierten Anforderungen, Zielen und Zeitfenstern übergeben werden.


Bereits 2007 – man darf ja nicht vergessen, dass schon Ende der 90er der Begriff Telearbeit für Furore sorgte – haben Gajendran und Harrison in einer Studie herausgefunden, dass Distance Leadership zu einer erhöhten Jobzufriedenheit führen kann. Insbesondere aufgrund der verbesserten Work-Life-Balance, die die Möglichkeit zur Arbeit im Homeoffice bietet. Und bei Work-Life-Balance werden vor allem die Generationen Y und Z hellhörig, unsere schon gegenwärtigen, vor allem aber künftigen Leistungsträger. Da geht es um einen Paradigmenwechsel, der freilich von Recruitern nicht ignoriert werden darf.


Veränderungen im Recruiting

Da Distance Leadership die Anforderungen an alle Beteiligten verändert, müssen auch im Recruiting adäquate Anpassungen erfolgen. Im Rahmen von Bewerbungsverfahren könnten beispielsweise spezielle Tests oder Simulationen zum Einsatz kommen, um Skills zu überprüfen, die angesichts der neuen Rahmenbedingungen einen immer höheren Stellenwert bekommen.


Auf Mitarbeiter-Ebene etwa werden die Jobprofile dahingehend neu justiert, dass Unternehmen zunehmend nach Kandidaten suchen, die über eine hohe Selbstorganisation und Selbstmotivation verfügen und in der Lage sind, effektiv in einem virtuellen Team zu arbeiten.


In Bezug auf Führungskräfte zeigen rezente Studien, dass die Fähigkeit zur Distance Leadership ein zuverlässiger Indikator für Erfolg ist. Jene nämlich, die in der Lage sind, ihre Mitarbeiter auch aus der Distanz zu motivieren, konnten insgesamt deutlich bessere Ergebnisse erzielen als solche, die diese Fähigkeit nicht besitzen. Soft Skills wie Mitarbeitermotivation, emotionale Intelligenz und Empathie bekommen im Recruiting einen ganz neuen Stellenwert.


Das Vehikel für diese Fertigkeiten ist natürlich die Kommunikation, die aber auch angepasst werden muss. Denn physische Distanz kann nonverbale Signale vermindern oder eliminieren, die in der persönlichen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen. Bei medial vermittelter Kommunikation bleiben Eindrücke innerhalb der Zusammenarbeit oft fragmentiert, vermitteln ein verzerrtes Bild oder lassen Probleme lange unentdeckt. Wichtiges Augenmerk sollte deshalb auf die Notwendigkeit gelegt werden, sich explizit Feedback einzuholen – womit Transparenz zum Schlüsselbegriff wird.


Die kann auch bei einem Phänomen hilfreich sein, das tatsächlich Probleme verursachen kann: Die Balance zwischen Hilfestellung und Kontrolle. Auf der einen Seite sollen Vorgesetzte ihren Mitarbeitern Vertrauen entgegenbringen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie ansprechbar sind, wenn sie gebraucht werden. Wenn sie jedoch ständig nachfragen, woran die Teammitglieder gerade arbeiten und wie es in den Projekten vorangeht, kann das gut gemeinte Interesse oder die Hilfsbereitschaft schnell in die ungewollte Wahrnehmung von Kontrolle kippen.


Strukturierte Touchpoints in Form von regelmäßigen Check-ins könnten hier einen wertvollen Beitrag leisten. Hier müssen Vorgesetzte stärker als sonst signalisieren, dass sie über die Themen der Mitarbeiter auf dem neuesten Stand bleiben wollen und sich für ihre Herausforderungen interessieren. Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Führungskräfte als vertrauensbildende Maßnahme ihr Team über eigene Projekte noch besser aufklären – denn auch die Wahrnehmung der Arbeit der Führungskraft wird durch virtuelle Mittel mitunter verfälscht.


Alles nur rosarot?

Natürlich sollte man als verantwortungsbewusster Recruiter nicht verabsäumen, moderne Schlagworte auf ihre Schattenseiten hin abzuklopfen. Auch sollte man gut differenzieren, da Faktoren wie Branche und Mitarbeiter-Struktur mitunter eine gewichte Rolle spielen. In traditionellen Sektoren und in Unternehmen mit einem hohen Mitarbeiter-Altersdurchschnitt werden vielleicht konventionelle Modelle eher bevorzugt.


Dennoch haben Studien mehrfach gezeigt, dass beispielsweise Teams, die physisch zusammenarbeiten, oft eine stärkere Bindung und Teamdynamik aufweisen. Sie können spontan zusammen Probleme lösen, Ideen austauschen und sozial interagieren. Bei Distance Leadership fehlen diese Gelegenheiten oft, was das Teamgefühl und die Motivation beeinträchtigen kann.

Auch bei der adäquaten Leistungsbeurteilung können Probleme auftauchen, was wiederum mit einer mangelnden oder fehlgeleiteten Kommunikation im Remote-Modus zusammenhängen kann. Eines darf man ebenfalls nicht vergessen: Nicht alle Mitarbeiter haben Zugang zu zuverlässiger Technologie oder Highspeed-Internet. Technische Probleme können zu Frustrationen führen und die Produktivität hemmen. Darüber hinaus erfordert Distance Leadership oft, dass Führungskräfte und Mitarbeiter mit neuen Technologien und Kommunikationswerkzeugen zurechtkommen müssen – gerade bei älteren Generationen ist die Abwehrhaltung gegenüber neuen Technologien mancherorts immer noch sehr groß.

Am schwersten fällt aber ein möglicher Trugschluss ins Gewicht: dass das dem Distance Leadership zugrunde liegende Remote-Arbeitsmodell die Work-Life-Balance positiv beeinflusst. Tatsächlich kann auch genau das Gegenteil passieren. Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwinden und die an sich zur Erholung erfundene Wohlfühloase Couch wird zu einem wüsten Ort, wo einem Frust und Stress das Leben zusätzlich erschweren.


Was ich bei meinen Kunden bemerken konnte: viele haben 2 Tage pro Woche Home-Office schon in ihrer Betriebsvereinbarung verankert, auch wenn andere immer noch beharrlich versuchen, zum Status ante quo zurückzukehren und ihre Mitarbeiter wieder gerne ausschließlich im Büro sehen wollten. Das wir sich meines Erachtens nicht mehr durchsetzen, da auf Kandidatenseite ca. 90% einen Wechsel nur in Betracht ziehen, wenn wenigstens ein Mindestmaß an Remote-Arbeit angeboten wird. Kein Wunder: viele Mitarbeiter, allen voran Generation XYZ, werden auf ihre gewonnene Freiheit nicht mehr verzichten wollen. Zumindest nicht, solange es sich um einen Bewerbermarkt handelt und die Kandidatenkonkurrenz gering ist.


Vermutlich wird der Trend auf Hybrid-Lösungen hinauslaufen. Für alle organisatorischen Dinge ist beispielsweise die Videokonferenz ein Segen, weil schnell und günstig. Überall dort wo aber kreative und/oder menschliche Komponenten in der Kommunikation eine Rolle spielen (von der technischen Produktentwicklung bis hin zu künstlerischen Berufen) wird der Live-Aspekt nach wie vor unerlässlich sein.




Gender-Disclaimer

Die auf dieser Website gewählte generisch-männliche Form bezieht sich immer auch auf weibliche und diverse Personen.

28 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page