Vor einigen Jahren hatte ich ein spannendes Gespräch mit dem CEO eines mittelständischen Tech-Unternehmens in Süddeutschland. Auf meine Frage, ob er mir ein Beispiel aus der Praxis geben könne, das zeigt, wie Führung im IT-Bereich schief gehen kann, erzählte er folgendes: Ein Tech-Team eines ihm bekannten Betriebs wurde beauftragt, eine App zu entwickeln. Nun war die Organisationsstruktur so beschaffen, dass möglichst viel Freiraum in den diversen Entscheidungsprozessen ein entscheidender Teil der Unternehmenskultur war. Nur die Dinge wurden gemacht, die die Teammitglieder für richtig gehalten haben und alles wurde basisdemokratisch entschieden. Leider waren auch viele Entscheidungen darunter, die das Know-how und die Einwände von Sales und Marketing außen vor ließen. Die User waren letztlich zwar sehr glücklich, aber es waren zu wenige. Am Ende wurde die App also abgeschaltet, weil die Investoren aufgrund kaum relevanter Umsatzentwicklungen die Geduld verloren hatten. Die Betroffenheit war natürlich groß ... Fakt aber ist: es handelte sich um Führungsversagen, das anschaulich die Grenzen von Unternehmertum und von Selbststeuerung in Teams aufzeigt.
Auch wenn sich diese Anekdote auf Führung im Allgemeinen anwenden ließe, glaube ich, dass sich die IT-Branche durch einige Besonderheiten auszeichnet. Ich bin zwar kein Coach oder Unternehmensberater – habe aber während meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Executive-Searcher mit sehr vielen Entscheidungsträgern in der Tech-Branche zu tun gehabt. Mein Learning: Führungskräfte haben hier mitunter ein größeres Defizit als anderswo, wenn es um die Kunst der Kommunikation und des Feedbacks geht. Wenn Fragen oder Unklarheiten auftauchen, sollten sie in der Regel recht schnell angesprochen und diskutiert werden. In Tech-Teams können solche Dinge aber oft eine ganze Zeit im Verdeckten gären und nicht zur Sprache kommen. Das erzeugt Unsicherheit und Frust, von denen die Führungskraft dann oft nicht mal was merkt.
Führungskräfte und ihre Herausforderungen
Wir wissen ja: Führungskräfte befanden sich immer schon in zahlreichen Spannungsfeldern. Durch neue Dynamiken am Arbeitsmarkt einerseits und die steigenden Ansprüche der nachkommenden Generationen andererseits, werden diese Kräfte aber immer virulenter.
Ein paar Beispiele: Führungskräfte sollen visionär Ziele und Missionen aufzeigen, aber Selbstbestimmung und Selbststeuerung zulassen. Sie sollen Potentiale fördern und Performance steuern. Aber alles soll einem größeren „Why" dienen. Führungskräfte sollen „Servant Leader" sein – also mehr Steigbügelhalter als peitschender Jockey – , zeitgleich aber auch die Vorgaben und Erwartungen von Gesellschaftern und Investoren bedienen. So werden selbst C-Level-Führungskräfte in Sandwich-Positionen gepresst, wie es üblicherweise nur im mittleren Management der Fall ist. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter hat eigene Vorstellungen von einer Work-Life-Balance. Diese müssen nicht zwingend zu den Vorstellungen der restlichen Teammitglieder passen. So entstehen Konflikte und Spannungen. Und viele Führungskräfte tun sich schwer, einen Weg für sich zu finden.
Die Frage, wo muss und wo darf ich als Führungskraft sehr klar und konsequent sein und an welcher Stelle sollen Freiräume entstehen – auch wenn Fehler möglich sind –, beschäftigt viele Führungskräfte. (Mehrere meiner Blogs drehen sich übrigens um das Thema Führungsstil. Hier ein Beispiel). Interessant ist auch, diesbezüglich die Dynamiken, Entwicklungen und Trends in der Branche mitzuverfolgen. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sind mit zwei wichtige Änderungen aufgefallen. Die aktuellen Leadership-Ansätze zählen jedenfalls nicht dazu – hier wurde das Rad bei näherer Betrachtung nicht neu erfunden und sie haben ihre Wurzeln in lange bekannten und bereits etablierten Konzepten.
Was jedoch neu ist: zum einen die aktuellen Erkenntnisse aus dem Bereich der Neuropsychologie, die viele Handlungsweisen von Unternehmen nun auch biologisch erklären kann und ihnen damit noch mehr Relevanz verleiht.
So wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass Methodenvielfalt beim Lernen und Entwickeln, also das Abwechseln von Theorieinput, kreativen Techniken oder emotionalen Aspekten und Körperarbeit, den Lernerfolg signifikant erhöhen, im Vergleich zu rein geistiger Arbeit. Auch die Wichtigkeit von Feedback für den Lernerfolg wurde untersucht und als ein Schlüsselfaktor für Kompetenzerweiterung identifiziert. Vieles, was bisher eher esoterisch oder abgehoben gewirkt hat, erfährt derzeit rückwirkend Wissenschaftlichkeit – siehe die lange belächelten Soft Skills wie Empathie, Wertschätzung, Achtsamkeit etc.
Zum anderen hat der Kampf um Mitarbeiter (Stichwort "War of Talents") dazu geführt, dass sich Firmen zwangläufig mehr Gedanken über Kultur, Umgang mit Mitarbeiter und damit natürlich mit dem Thema Führung machen müssen. Vor allem wenn sie Key-Positionen gut besetzen und Talente halten wollen. Während also Mitarbeiter früher so manche Marotten und Führungsschwächen des Chefs ausgehalten und runtergeschluckt haben, haben heute gute Mitarbeiter in wenigen Wochen einen neuen Job gefunden.
Selbstbestimmung und was man beachten sollte
Ich wage zu behaupten, dass heutzutage kein Tech-Unternehmen nach den Richtlinien eines autoritären Führungsstils geführt wird. Selbst bei manchen Tech-Giganten, wo dieser Eindruck entstehen könnte (mit medienwirksamen Egomanen an der Spitze), werden diese Galeonsfiguren (und mehr sind sie letztlich kaum) weitestgehend aus dem operativen Geschäft herausgehalten. Das Sagen haben andere, in der Öffentlichkeit weit weniger sichtbare Drahtzieher. Wie dem auch sei: Gerade in der IT-Branche werden traditionell Werte wie Selbstbestimmung und Freiheit besonders hoch gehalten. Liegt es vielleicht daran, dass diese Branche immer ein wenig mit einem kreativ-chaotischen Genius in Verbindung gebracht wird? Nicht umsonst wurde da schon früher als sonstwo mit innovativen Organisationsstrukturen und Arbeitsprozessen experimentiert, die heute Standard sind, beispielsweise agiles Arbeiten.
Die Rolle der Führungskraft wird hier jedenfalls besonders anspruchsvoll. Sie muss dem Team Freiräume geben und Hindernisse aus dem Weg räumen. Selbststeuerung braucht viel Zeit und Geduld, bis sich Teams geformt haben und Performance aufrufen können. Die Führungskraft hat die Aufgabe, mit den Mitarbeitern an ihrer Rolle im Team zu arbeiten. Nicht jedem ist schließlich Teamfähigkeit in die Wiege gelegt worden. Damit kommt gleichzeitig der Begriff des kritischen Feedbacks ins Spiel, wo die Führungskraft eine maßgebliche Rolle spielen muss. Denn Selbststeuerung darf nicht heißen, dass in Teams Alpha-Charaktere alle anderen unterdrücken – da muss die Führungskraft regulierend eingreifen. Selbststeuerung ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Sie setzt ein hohes Maß an Kooperationsfähigkeit, Konsensfähigkeit, aber auch Konflikt und Durchsetzungsfähigkeit voraus. Ganz zu schweigen von Reflexionsfähigkeit. Eine hohe Kunst, die nicht von allen Teammitgliedern gleichermaßen beherrscht wird. Auch wenn es um persönliche Zielsetzung und Performance der Mitarbeiter geht, kann nicht alles im Team selbst geregelt werden. Im besten Falle werden die Konflikte ausgetragen. Leider aber oft genug auch verschwiegen und verdrängt. Wenn also die Führungskraft bestimmte Dinge vorgibt und entscheidet, so hat das durchaus eine gesunde Ventil- und Reinigungsfunktion.
Was ist nun eine gute Führungskraft aus Sicht eines Mitarbeiters in der IT? Pauschal kann man das natürlich nicht beantworten, zu viele individuelle Faktoren wie Persönlichkeitsmerkmale, Vorerfahrungen etc. kommen da ins Spiel. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Mitarbeiter am meisten zu schätzen wissen, wenn eine Führungskraft transparent und berechenbar ist. Menschen können sich auf Vieles einstellen, solange sie wissen, wann und warum was passiert.
Über den Tellerrand
Während die Domäne vieler Führungskräfte in der IT auf die IT-Abteilung beschränkt war, dehnt sie ihr Fachwissen zunehmend auf alle Abteilungen aus. Die Grenzen werden immer fließender. Die Rolle erstreckt sich über das Produkt, die Technik und das Business. Sie haben auch zumeist schon einen gemischten Hintergrund, verfügen über ein breiteres Verständnis, und wo sie eher High-Level unterwegs sind, umgeben sie sich mit Stellvertretern, die über diese Tiefe und Erfahrung verfügen. Die CIO-Position wird so immer mehr zu einem Übungsplatz für CEOs. Auch werden IT-Führungskräfte immer mehr zu Change Agents. Natürlich steht es außer Frage, dass eine stabile, leistungsfähige IT-Infrastruktur heute wichtiger denn je ist. Aber ein stabiler Zustand ist nicht die ultima ratio. Erfolg ist die Bewältigung des Wandels und nicht die Bewegung von einem Fixpunkt zum anderen. Infrastrukturen müssen also skalierbar sein und im Hinblick auf ein effizientes Management von diesem mit Wissen, Erfahrung und Weitsicht abgesichert werden.
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