Wissen Sie noch: New Age? Das war irgendwann in aller Munde und ein unglaublich gehypter Begriff, bei dem es – kurz gesagt – um einen so gut wie alles durchdringenden Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft ging. Ähnliches vollzieht sich nun schon seit einiger Zeit im Recruiting-Bereich und heißt New Hiring, was wiederum als Konsequenz des "New Work" propagiert wurde. Apropos Propaganda: "New" ist ja ein psychologisch bestens erforschtes Signalwort, das sich immer wieder erfolgreich neu erfindet. Höchste Zeit also einen etwas genaueren Blick auf die Neu-Erfindung des Recruitings – also New Hiring – zu werfen, wie ich ja schon in meinem letzten Blog angedeutet habe.
Lange Zeit war das Recruiting nur eine Aufgabe von vielen im HR-Bereich. Das Personal in der richtigen Anzahl, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort bereitzustellen, galt als generelles Credo und war eine der klassischen Aufgaben des Personalwesens. Das stimmt natürlich noch immer, ohne Personal geht es nicht. Aber die Suche nach den passenden Talenten im viel besprochenen War of Talents rückt jetzt so in den Vordergrund, dass sie zum strategischen Thema wird.
Gleichzeitig haben spätestens die letzten Monate der Pandemie gezeigt, dass sich die Parameter im Recruiting entscheidend und nachhaltig verändert haben. Remote Work bzw. hybrides Arbeiten haben sich vielerorts als Normalzustand etabliert (New Workplace!). Flexible Arbeitsmodelle sind kein Nice-to-have mehr, sondern ein Need-to-have. Kollaboratives und selbstbestimmtes Arbeiten wird nicht nur gewünscht, sondern vorausgesetzt, New Leadership, Führung, die auf offener Kommunikation und Vertrauen basiert, hält Einzug in die Führungsetagen, und New Pay verhandelt ganz neue Kompensationsmodelle.
Deshalb musste und muss HR beginnen, ein neues Verständnis vom Recruiting zu entwickeln. Es sollte konsequent an die Eigenheiten von New Work angepasst werden und Tools und strategische Konzepte hervorbringen, die die optimale Versorgung des Unternehmens mit Personal auch bei einer schwierigen Arbeitsmarktlage sicherstellen können. Recruiting wird also für Unternehmen zum strategischen Erfolgsfaktor. Und damit zu einem Thema, welches das ganze Unternehmen betrifft.
Werte und Wertschätzung.
New Hiring: das ist die Entwicklung weg von starren Bewerbungsprozessen und faktenlastigen Entscheidungen, hin zu konsequent an den Bedürfnissen der Bewerber orientierten, flexiblen Prozessen, in denen der Mensch als Individuum im Vordergrund steht. Recruiter müssen mehr denn je verstehen, was die Bewerber antreibt, welche Werte sie mitbringen und was ihnen wichtig ist, wenn sie für eine Tätigkeit im Unternehmen begeistert werden sollen. Hier ein paar Schlüsselbegriffe:
Führungsverständnis: Eine Schlüsselrolle kommt im New Hiring den Führungskräften zu. Ohne ihr Engagement geht es nicht. Denn wir wissen, dass sich viele Talente nicht nur für den Job und das Unternehmen entscheiden, sondern auch ganz konkret für ihren künftigen Chef. Der Chef nicht nur als Chef, sondern als Mentor und Identifikationsfigur? Mehr denn je! Die Führungskraft ist noch mehr, wichtiger Kulturträger zum Beispiel. Je mehr sie sich einbringt in den Rekrutierungsprozess und in den fachlichen Dialog geht mit den Talenten, um ihnen zu erklären, warum gerade dieser Job zu ihnen passt und warum sie die richtige Führungskraft vor sich haben, desto erfolgreicher wird ein Unternehmen in der Personalgewinnung sein.
Digitalisierung: automatisierte Bewerbungsprozesse sind längst kein Selbstzweck mehr, um effizienter zu werden. Es geht darum, Kapazitäten freizusetzen, die der Recruiter dann in die Kommunikation mit den Bewerbern investieren kann, was sich nebenbei bemerkt auch positiv auf die Time-to-Hire auswirken kann. Ein weiterer Aspekt: natürlich sollen durch den digitalen Prozess Informationen aufbereitet werden. Das Ziel hat sich aber verändert. In den Vordergrund rückt nun das ganzheitliche Bild eines Bewerbers, mit seinen Werten, Bedürfnissen und Lebenssituationen.
Kommunikation: Die sollte sich nicht nur auf Zwischenbescheide und Einladungen zu Job-Interviews beschränken. Bewerber haben mittlerweile weit höhere Ansprüche, und das nicht nur auf den Executive C-Levels. Standardschreiben waren gestern. Wertschätzung wird heute anders vermittelt, in einem echten Dialog, in dem eine gemeinsame, persönliche Basis entsteht. Das beginnt im Idealfall bereits, ehe eine konkrete Stelle ausgeschrieben wird. Siehe Bildung von Netzwerken, die wird zukünftig im Personalbereich immer wichtiger werden.
Feedbackbeschleunigung: Wochenlanges Schweigen, dass sogar ein Trapisten-Mönch neidisch werden könnte, können sich Arbeitgeber heute nicht mehr leisten (und war auch früher schon kein guter Stil). Die Anschaffung einer effektiven Software für das Bewerbermanagement stellt schnelle Antworten auf Fragen sicher, hält die Kommunikation dauerhaft aufrecht und ist damit eine sinnvolle Investition.
Kontaktdiversifizierung: Informationsbeschaffung läuft im digitalen Zeitalter anders als früher. Bewerber nutzen oftmals die gesamte Klaviatur der Kommunikationskanäle. Im Idealfall stellt also der künftige Arbeitgeber verschiedene Möglichkeiten der Kontaktaufnahme bereit, sodass der Bewerber den favorisierten Kommunikationskanal nutzen kann. Neben einem klaren Ansprechpartner mit Telefonnummer gehören dazu auch E-Mails, Messenger-Dienste und soziale Medien. Der Kontakt sollte übrigens auch dann nicht abreißen, wenn es für diese Stelle nicht gepasst hat. Möglicherweise tun sich bereits Monate später neue Chancen auf. Das ist gut für die Wertschätzung an, das langfristige Planen und eine wachsende Vernetzung.
Authentizität: Polierte, geschliffene Employer-Branding-Profile sind zwar noch immer ein gutes Hilfsmittel für das Recruiting. Doch gerade die jüngeren Generationen legen Wert auf Authentizität. Das bedeutet: Der Arbeitgeber sollte sich authentisch präsentieren, ehrlich sein und nichts beschönigen. Ist am künftigen Arbeitsplatz etwas nicht so, wie es sich Arbeitnehmer wünschen, sollte dies besser gleich kommuniziert werden. Andernfalls ist der neue Kollege ebenso schnell wieder weg, wie er gekommen ist.
Internationalisierung: Mehr Remot-Work oder Hybrid-Arbeitsmodelle bedeutet gleichzeitig einen notwendigen Blick über den geografischen Tellerrand. Doch selbst mit gut strukturierten Talentpools und passenden Partnern kann die internationale Suche nach qualifizierten Mitarbeitenden für Unternehmen, vor allem beim ersten Mal, eine echte Herausforderung sein. Meiner Erfahrung nach scheuen deshalb gerade kleine und mittelständische Unternehmen oft die internationale Kandidatensuche. Hinzu kommt, dass die gesetzlichen und politischen Regelungen von Land zu Land unterschiedlich sind, da braucht es Experten, die sich gekonnt durch den Paragrafendschungel schlagen können. Ebenso können organisatorische Faktoren, wie die Überweisung des Gehalts oder eine Sozialversicherung der Angestellten, Unternehmen vor bürokratische und gesetzliche Herausforderungen stellen.
Wo geht die Reise letztlich hin? Solange wir in einem Arbeitsnehmer-Markt sind, läuft alles in Richtung Umdenken. Herkömmliche Strukturen und Denkmuster werden in einem Maße aufgebrochen, wie es seit Langem nicht mehr der Fall war. Man kann glaube ich mit Fug und Recht von revolutionären Veränderungsprozessen sprechen. Was aber, wenn die Situation am Markt kippt und wieder ein deutliches Überangebot an Nachfrage entsteht? Dann wird vielleicht ein neuer Begriff Einzug in die Recruiting Terminologie halten: wie wär´s mit New-Oldschool?
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