top of page

DA STEHT WAS KOPF.

Roland Spitzegger

Aktualisiert: 18. Okt. 2024




Irgendwann in den 90ern – ich war ein aufstrebender Junior-Manager in einer HR-Beratungsfirma – hatte ich eine bahnbrechende Idee und teilte sie enthusiastisch meinem Boss mit. "Hey Boss" sagte ich (naja, vielleicht etwas formeller), "warum drehen Sie den Spieß eigentlich nicht mal um und überzeugen Unternehmen davon, dass sie sich bei Bewerbern vorstellen?" Dem Gesichtsausdruck meines Vorgesetzten nach zu urteilen, hätte ich ebenso gut fragen können, warum wir nicht mal der Sonne nahelegen, ob sie nicht im Westen aufgehen wolle. "Warum sollten wir das tun?" meinte er geduldig und, ja, wohl auch etwas mitleidig. "Die Bewerber rennen den Unternehmen die Türen ein und die können sich die Rosinen rauspicken. Und am C-Level gibt’s ja ohnehin Active Sourcing." Active Sourcing könnte aber zu kurz gegriffen sein mein Lieber, dachte ich bei mir, hakte aber nicht weiter nach. "Warten Sie noch ein paar Jahrzehnte, vielleicht änderst sich ja die Marktlage und ihre revolutionäre Idee (dabei zwinkerte er mir gönnerhaft zu) hat ihren großen Durchbruch."

 

2024. Ein Trend macht Schlagzeilen: Reverse Recruiting. Wer ihn erfunden hat, weiß man nicht so genau (obwohl ich eine Vermutung habe). Tatsache ist jedenfalls, dass er angesichts der vorherrschenden Rahmenbedingungen ein Teil der Lösung sein könnte. Für welche Probleme? Der Arbeitsmarkt, jahrzehntelang gemütlich dahinschlurfend, vorhersagbar und ohne große Überraschungen, befindet sich mitten in einem enormen Umbruch. Aus dem Arbeitgeber- wurde ein Arbeitnehmermarkt, eine neue Generation mit einem neuen Mindset – Stichwort Work-Life-Balance – ist im Begriff das Ruder zu übernehmen. Hinzu kommen Inflation, schwächelnde Konjunktur, verlangsamtes Wachstum. All das kann für so manch Unternehmen zu einem toxischen Cocktail werden, wenn nicht neue Strategien erwogen und umgesetzt werden. Reverse Recruiting ist eine davon, und eine durchaus vielversprechende obendrein, wenn man validen Studien zu diesem Thema Glauben schenken darf.

 

Drehung um 180°

 

Zunächst eine kurze Begriffsdefinition. Reverse Recruiting stellt eine 180-Grad-Wende im Bereich der Rekrutierung dar. Die Methode ist das genaue Gegenteil eines herkömmlichen Bewerbungsverfahrens. Während sich im konventionellen Prozess der Arbeitnehmer auf eine Stellenanzeige bewirbt oder eine Bewerbung schreibt, nachdem er von einem Headhunter angesprochen wurde, bewirbt sich hierbei das Unternehmen selbst bei qualifizierten Fachkräften. Die Entscheidung, ob der Prozess zu einem erfolgreichen Abschluss und einer Einstellung führt, trifft letztlich der Arbeitnehmer und nicht das Unternehmen. Das setzt natürlich voraus, dass potenzielle Arbeitnehmer sehr gut zum Unternehmen, zum Aufgabenbereich und zu den Unternehmenszielen passen. Das Unternehmen muss also zunächst eine Vorauswahl treffen und gezielt Personen ansprechen, die man einstellen möchte. Wie kann ein solcher Prozess aussehen?

 

Damit Reverse Recruiting erfolgreich ist, müssen Personalverantwortliche bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Gefragt ist im Grunde eine ganz neue Generation von Personalern, die eher wie Marketing-Experten oder Verkäufer denken und handeln – weshalb auch das Employer Branding ins Spiel kommt (siehe dazu weiter unten). Sie erstellen für das Reverse Recruiting keine Stellenanzeige, sondern eine Art Bewerbungsmappe für das eigene Unternehmen. Sie müssen die Vorzüge der Firma verdeutlichen und ihre Zielgruppe kennen und bedienen können. In den entsprechenden Unterlagen sollten beispielsweise folgende Punkte herausgearbeitet werden, die die potenziellen Arbeitnehmer interessieren:

 

  • Unternehmenskultur und Diversität

  • Nachhaltigkeit, soziales Engagement und Umweltbewusstsein

  • Flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, Homeoffice oder hybrides Arbeiten wahrzunehmen

  • Möglichkeiten zur Weiterbildung

  • Zuschüsse und Beteiligungen

  • Vorteile und Incentives

 

Kriterien also, die besonders die nachrückende Generation von Arbeitnehmern sehr gut in ihren Wertekatalog integrieren können und letztlich auf das Modell des New Work mit optimierter Work-Life-Balance und anspruchsvollen ethischen Grundsätzen hinauslaufen.

 

Also Active Sourcing?

 

Aber wenn nun der Bewerbungsprozess auf den Kopf gestellt wird und Unternehmen potenzielle Mitarbeiter umgarnen, ist das wirklich so neu? Klingt doch nach Active Sourcing, einer bewährten Strategie, um vor allem auf der Führungsebene Profis und vielversprechende Newcomer für sich zu gewinnen.

 

Die Antwort lautet Jein. Die Grenzen sind zwar da und dort fließend, dennoch gibt es Unterschiede und Nuancierungen. Beim Active Sourcing muss sich der jeweilige Kandidat noch selbst beim Unternehmen bewerben. Auf Xing oder LinkedIn, aber auch mit zahlreichen anderen Methoden können Arbeitgeber sich auf die Suche nach potenziellen neuen Mitarbeitern machen und Kontakt zu ihnen aufnehmen. Dabei wird der Kandidat anhand der Qualifikationen ausgewählt und kontaktiert, woraufhin er entscheiden kann, ob er Interesse an dem Job hat. Besteht Interesse, werden diese Bewerber in den klassischen Bewerbungsprozess integriert.

 

Im typischen Reverse-Recruiting-Prozess entfällt das Erstellen von Bewerbungsunterlagen für den Arbeitnehmer komplett. Reverse Recruiting ist somit die Weiterführung von Active Sourcing. Statt Kandidaten zu kontaktieren und sie letztendlich doch in den standardisierten Bewerbungsprozess zu integrieren, wird der Prozess im Reverse Recruiting vollständig umgedreht. Jobsuchende können ein Profil mit ihren Qualifikationen, Erfahrungen und Vorstellungen von Arbeitgeber, Jobs und Gehalt anlegen und Bewerbungen von potenziellen Arbeitgebern erhalten. Dabei handelt es sich in der Regel wirklich um klassische Bewerbungen mit einem Anschreiben, das das Unternehmen erstellt. Der Jobsuchende kann schließlich entscheiden, ob er Interesse hat und sich bei Interesse mit dem Unternehmen über die weiteren Schritte austauschen. Der Unterschied zum Active Sourcing ist die Abkehr vom klassischen Bewerbungsverfahren, in dem schlussendlich doch der Arbeitgeber die alleinige Entscheidungsgewalt über die Besetzung des Jobs hat.

 

Einbettung ins Employer Branding

 

Wie bereits oben erwähnt, ist Reverse Recruiting eng mit dem Thema Marketing verzahnt. Das Unternehmen hat zum Ziel, sich bestmöglich und überzeugend zu präsentieren. Und das ist auch das Ziel beim Employer Branding, das auf einer noch weiter übergeordneten Ebene den Auf- und Ausbau einer tragfähigen Arbeitgebermarke anstrebt, um aber Mitarbeiter letztlich nicht nur zu finden (Reverse Recruiting), sondern auch langfristig zu binden.

 

Einen Blog über das Employer Branding finden Sie hier. Kurz zusammengefasst: es ist eine Marketing-Strategie für die Personalabteilung, um eine attraktive Arbeitgebermarke zu schaffen. Mit geeigneten Marketing-Konzepten soll es das eigene Unternehmen als attraktiven Arbeitgeber positionieren, Wettbewerber in den Schatten stellen, Mitarbeiter für das eigene Unternehmen gewinnen und diese nachhaltig binden. Zunächst geht es um die Findung und Implementierung einer Employer Value Proposition (ähnlich dem USP, dem Alleinstellungsmerkmal, im klassischen Marketing). Zweiter Schritt: Branding, also der Markenauf- und ausbau sowie dessen Kommunikation.

Dann Engagement mit der Erstellung einer geeigneten Content-Strategie, Recruiting – Mitarbeiterfindung – und letztlich Retention: Mitarbeiter halten und binden.

 

Stimmt schon: Reverse Recruiting kann durchaus einen höheren Aufwand bedeuten – trotzdem lohnt es sich in strategischer Hinsicht. Denn es reicht heute bei weitem nicht mehr aus, den kompetenten Experten, die Fachkraft oder das neue Talent für die Unternehmensgegenwart zu suchen. Personaler sollten gezielt planen und sich an die Talente wenden, deren Skillset in Zukunft vom Unternehmen strategisch benötigt wird. So kann das Reverse Recruiting sein volles Potenzial entfalten und sogar zu der entscheidenden Schlüsseldisziplin für die Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens werden.

 

Gender-Disclaimer

Die auf dieser Website gewählte generisch-männliche Form bezieht sich immer auch auf weibliche und diverse Personen.

 

 
 
 

Comentários


bottom of page